>
Oliver Reiser

www.Chemie-im-Alltag.de

Chemie als Bildungs- und Kulturgut [Teil 2]

Prof. Dr. Peter C. Thieme, Institut für Organische Chemie und Biochemie, Universität Freiburg, ehemals BASF AG


< < < ZURÜCK zum ersten Teil

Das Periodensystem verändert die Welt

Das Ordnungsprinzip des Periodensystems (Abbildung links, für ein Gesamtbild anklicken) ist zwar überzeugend, aber auf den ersten Blick, zumindest aus heutiger Sicht, nicht sonderlich spektakulär, da die dahinterstehende Logik leicht nachvollziehbar ist. Die  Konsequenzen, die sich aus dem Periodensystem ableiteten, waren allerdings weltverändernd. Die Vorhersage noch unbekannter Elemente und ihr Auffinden aufgrund der ebenfalls postulierten Eigenschaften durch Mendelejew war naheliegend und belegte die Leistungsfähigkeit des Systems.

Die Chemie lernt lesen

Die organische Synthesechemie erhielt jedoch einen enormen Schub, weil auch andere Atome als nur Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff zum Aufbau von Molekülen benutzt wurden und weil man zunehmend verstand, wie diese Atome zu Molekülen verknüpft werden können. Viele Naturstoffe wurden in ihrer molekularen Struktur aufgeklärt. In der Physik wurde mit der Atomphysik  ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Kernspaltung wäre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne das 80 Jahre vorher aufgestellte Periodensystem der Elemente nicht zu erkennen und zu verstehen gewesen. Und schließlich wurde die Biologie mehr und mehr auf eine molekulare Basis gestellt, was  in der Struktur der Doppelhelix (Abbildung rechts, zur Vergrößerung anklicken) und der Aufklärung des genetischen Codes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Höhepunkte wissenschaftlicher Erkenntnis setzte.

Das Periodensystem, das vom Wasserstoff mit der Ordnungszahl 1 bis zum Uran mit der Ordnungszahl 82 alle natürlichen Elemente und über das Uran hinaus auch einige instabile künstlich hergestellte Elemente enthält, ist quasi das Alphabet, mit dem die materielle Welt beschrieben werden kann. Die Atome werden zu Molekülen zusammen gefügt, vom zweiatomigen  Kochsalz bis zum vielatomigen Erbmaterial. Das sind die Worte, aus denen die Natur ganze Kapitel und umfangreiche Bücher schreibt. Mit nur vier Molekülen oder Worten gelingt es der Natur, in den Genen eine unvorstellbar große Zahl von Informationen zu speichern, von denen noch lange nicht alle entschlüsselt und verstanden sind.

Bildung und Kultur - mit Chemie

Von diesen Zusammenhängen, die unsere Lebensumstände so grundlegend verändert haben und ständig beeinflussen, ein wenig zu verstehen, sollte für jeden gebildeten Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit sein. Man muss dazu nicht Wissenschaftler sein, genau so wenig, wie man Komponist oder Musiker sein muss, um Mozarts Requiem oder Chopins Sonaten zu lieben. Aber so, wie wir den Unmusikalischen bedauern, dass ihm die Schätze der Musik verborgen bleiben, so sollten wir auch den zutiefst bedauern, der vorgibt, von  Naturwissenschaften nichts zu verstehen. Ihm bleibt ein wesentlicher Teil menschlicher Erkenntnis verschlossen.

In den Salons des aufgeschlossenen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert gehörte es zum guten Ton,  die Fortschritte in den chemischen Wissenschaften kompetent zu diskutieren.

Die aufstrebende Teerfarbenindustrie war ja gerade dabei, mit synthetischen Farbstoffen die Welt nicht nur bunter zu gestalten, sondern auch  wirtschaftlich zu verändern. Das Ringen um eine wirtschaftliche Synthese für den natürlichen Pflanzenfarbstoff Indigo hat damals sogar Niederschlag in einer Strauß-Operette gefunden (Indigo und die 40 Räuber). Mendelejew war übrigens 1860 nach Karlsruhe mit seinem Freund Alexander Borodin gereist, einem Komponisten und studiertem Mediziner und Chemiker, dem wir unter anderem die Oper Fürst Igor verdanken. So nah lagen damals natur- und geisteswissenschaftliche Interessen.

Denjenigen, die neugierig geworden sind und sich auf unterhaltsame Weise in die Welt der Elemente einlesen möchten, seien die Erinnerungen von Oliver Sacks empfohlen, die bei Rowohlt unter dem Titel Onkel Wolfram erschienen sind.


Artikel zum Thema:
Zitronen für Dr. Guido Westerwelle | Wer wird Millionär? | Mit Chemie und Frieden zur Million Euro


Buchtipp:
Onkel Wolfram von Oliver Sacks